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Freitag, 9. September 2011

MARTYRS (Frankreich / Kanada, 2008)


Viel ist im Vorfeld über „Martyrs“, die neueste Genreproduktion aus Frankreich, von ersten Augenzeugen berichtet worden. Von einem Meisterwerk ist da die Rede. Oder von einer abartigen Schlachtplatte. Der Neuerfindung des Kinos. Dem Untergang des Kinos. Und so weiter.
Nur wie das so mit Behauptungen ist, sollte man zunächst immer selbst prüfen, was es mit den Lobpreisungen oder ketzerischen Worten so auf sich hat.
Sicher ist: Wer auch immer bisher in Kontakt mit diesem Werk gekommen ist – kalt gelassen hat es sie oder ihn nicht…




Frankreich, Anfang der 70er:

Ein Mädchen rennt in Unterwäsche und völlig verstört eine einsame Straße entlang. Es ist die junge Lucie, die bereits seit über einem Jahr vermisst wird und nur knapp aus den Klauen ihrer Entführer entkommen konnte. Obwohl die Ermittler den Ort, an dem sie über die Zeit festgehalten worden ist, ausfindig machen konnten, bleibt der Grund ihrer Entführung ein Rätsel – zwar ist Lucie in einer schlechten körperlichen Verfassung aufgefunden worden, aber Anzeichen eines sexuellen Missbrauchs können die Ärzte nicht feststellen. Auch zu einer Identifizierung ihrer Peiniger ist das Mädchen außer Stande.

In der Klinik entwickelt sich zwischen ihr und der gleichaltrigen Anna eine unzertrennliche Freundschaft. Seit ihrem Auffinden wird Lucie von einer unheimlichen Erscheinung gequält, die ihr, wie sie Anna unter Angst erzählt, ihre häufigen Verletzungen zufügt...

15 Jahre später:

Eine Klein-Familie sitzt gerade beim Sonntags-Frühstück als es plötzlich an der Tür klingelt. Der Vater steht auf und sieht nach dem Öffnen die erwachsene Lucie (Mylène Jampanoï, „Die Töchter des chinesischen Gärtners“) mit geladenem Gewehr vor sich stehen. Nach einem kurzen Blick erschießt diese den überraschten Mann – und daraufhin ohne Ausnahme die ganze Familie…

Mehr vom Inhalt sollten die Zuschauer im Voraus nicht erfahren - und nervige Spoiler-Freaks gehören bei Missachtung dieses Gebots mit einem Filmverbot von nicht unter zwei Jahren bestraft, denn „Martyrs“ muss man wirklich ohne jegliches Vorwissen sehen, da er sonst nicht seine ganze verstörende Wirkung entfalten kann.

Auch Regisseur Pascal Laugier, der hier nach dem zwiespältig aufgenommenen „Saint Ange“ (2004) zum zweiten Mal bei einem Spielfilm Regie führt, wünscht sich ein Ignorieren der bereits zu Anfang genannten Kommentare über das Ausmaß seines Werkes, damit nicht jeder Zuschauer gleich ein weiteres Schlachtfest im Stil von „Frontier(s)“ oder „Inside“ (beide 2007) erwartet. Denn das ist „Martyrs“ – trotz vieler wirklich harter Szenen – ganz sicher nicht!
Laugier benutzt die Gewalt vielmehr als Stilmittel, das nur zum Einsatz kommt, wenn es auch gerade angebracht ist. Was bei seinem Film eher die fast unerträgliche Härte ausmacht, ist die mitreißende und erschütternde Story, die die Zuschauer wie ein Sog mitten rein zieht.

Bereits nach wenigen Minuten ist klar, dass es sich hier nicht um eine typische Genreproduktion handelt. Nein, „Martyrs“ ist dieser eine Film. Dieser Film, auf den anspruchsvolle Horrorfans schon so lange gewartet haben, und um ihn zu finden schon jede Menge an uninspiriertem Metzel-Müll ertragen mussten.
Natürlich handelt es sich auch bei dem letztjährigen „Inside“ um eine herausragende Leistung, doch Laugiers Werk kann sich getrost schon jetzt neben Klassiker wie Polanskis „Rosemary´s Baby“ (1968) oder Kubricks „Shining“ (1980) einreihen, da auch dieses das gewisse Etwas hat, das auch die genannten Filme auszeichnet. Einzigartigkeit. Innovation. Oder wie man es nennen mag.
Meisterwerke gibt es jedes Jahr einige, aber eine Leistung mit solcher Durchschlagskraft ist sehr selten!
„Martyrs“ verzichtet vehement darauf, irgendwelchen Trends nachzulaufen, sondern folgt strikt seiner intelligenten Handlung ohne Kompromisse auf die Sehgewohnheiten eines Publikums.


Zu Anfang wird bereits die durchgehende Stimmung festgelegt:
Wenn Lucie mit der Waffe in ihrer Hand dem Sohn der Familie gegenübersteht, der fassungslos mit Tränen in den Augen am Tisch sitzt, und ihn dann kaltblütig erschießt, weiss man, dass es in den nächsten 90 Minuten keine Auflockerung oder Anlass zum Lachen gibt.

Selbst im sonst Altersfreigaben-technisch sehr liberalen Frankreich hat der Film für Aufsehen gesorgt, da er erst durch den Einsatz der Kultusministerin Christine Albanel die dort für Genreproduktionen eigentlich gängige Kennzeichnung „ab 16 Jahren“ bekommen hat. Hierzulande wird es „Martyrs“ mit Sicherheit schwer haben, überhaupt durch die FSK-Prüfung zu kommen – wahrscheinlicher ist da wieder der Segen der Juristenkommission…hoffentlich ohne Kürzungen!

Die Idee zum Film ist in einer schweren Lebensphase des Regisseurs (der auch für das Drehbuch verantwortlich ist) entstanden, in welcher sich dieser isoliert und von der Außenwelt manipuliert gefühlt hat. Den Zorn und die Verzweiflung merkt man dem Werk in jeder Sekunde an, aber trotz einer sehr deprimierenden Atmosphäre gibt es auch bei „Martyrs“ Licht in der Dunkelheit.

Vergleiche zu anderen Filmen lassen sich inhaltlich kaum ziehen (die irgendwo mal gelesene „Hostel“-Ähnlichkeit bitte ganz schnell vergessen!).
Als einzige Einflüsse nennt Pascal Laugier „Possession“ (1981) von Andrzej Zulawski und „Tenebre“ (1982) von Dario Argento (dem „Martyrs“ auch am Ende des Abspanns gewidmet ist). Letzterer kann eindeutig als stilistisches Vorbild eingeordnet werden.

Sowohl Mylène Jampanoï als Lucie, als auch Morjana Alaoui als Anna beeindrucken zudem als Hauptdarstellerinnen – ohne deren überzeugende Darstellungen könnte das Werk nicht funktionieren, da der Fokus, wie schon erwähnt, nicht auf den Splatterszenen, sondern der komplexen Story liegt.

Trotz der enormen Härte ist dies ein Film, den man (als volljähriger Zuschauer) gesehen haben sollte. Der die Intelligenz der Genrefans nicht verspottet und wirklich wieder eine berührende, innovative Geschichte erzählt.


Wenn so der Untergang des Kinos aussieht, sind wir gern Zeugen.

Groß



MARTYRS (Frankreich / Kanada, 2008)
Regie: Pascal Laugier
Drehbuch: Pascal Laugier
Kamera: Stéphane Martin & Nathalie Moliavko-Visotzky
Musik: Seppuku Paradigm
Produktion: Eskwad, Wild Bunch, Canal+, Canal Horizons, Ciné Cinémas, TCB Film
Darsteller: Mylène Jampanoï, Morjana Alaoui, Juliette Gosselin, Mike Chute, Xavier Dolan-Tadros, Gaëlle Cohen, Anie Pascale
Länge: 97 min.
Website: http://www.martyrs-lefilm.com/


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